„Hört ihr Leut‘ und lasst euch sagen…“ – mit diesem geistlichen Volks- und Kinderlied begann Reinhard Heinrich pünktlich mit den Sieben-Uhr-Glockenschlägen der Kirche seine Nachtwächterführung. Im historischen Gewand mit Hellebarde und Laterne stimmte er große und kleine Leute ein, mit ihm in die Geschichte Kürnachs einzutauchen. Als „Bediensteten“, der seine Utensilien schieben musste, hatte Reinhard Heinrich den Kürnacher Bürgermeister René Wohlfart, erst drei Tage vorher erneut zum Bürgermeisterkandidaten der SPD nominiert, gewinnen können.
Eingeladen zu diesem abendlichen Rundgang hatte der SPD-Ortsverein, der in diesem Jahr sein 60-jähriges Bestehen feiert und schon mit zahlreichen Aktivitäten die Kürnacherinnen und Kürnacher erfreut hat. Die Co-Vorsitzende der KürnachSPD, Gaby Grützner-Ledermann, konnte neben Reinhard Heinrich, KürnacherUrgestein und ehemaliger Leiter des Bauhofs, und Bürgermeister Wohlfart auch mehrere Gemeinderäte und rund 200 Bürgerinnen und Bürger begrüßen, darunter viele Kinder (mit Laternen).
An der ersten Station vor der Kirche erzählte Reinhard Heinrich vom ehemaligen Schwesternhaus (heute: Haus der Vereine), in dem 1895 eine Kinderbewahranstalt gegründet wurde. Die Schwestern, Franziskanerinnen aus Dillingen, waren auch die erste Anlaufstation im Krankheitsfall, denn einen Arzt gab es in Kürnach dauerhaft erst ab 1973. „Wenn’s dich beim Spielen richtig erwischt hat, bist halt zur Schwester nauf an Kirchberg gschickt worn“, so Heinrich aus eigener Erinnerung. Gegenüber vom Schwesternhaus steht das Rathaus, das ursprünglich als Schulhaus errichtet worden ist. Der Schulbetrieb begann dort 1879. Im ersten und zweiten Stock war jeweils ein Lehrsaal für bis zu 80! Schülerinnen und Schüler sowie eine Lehrerwohnung.
An der Kreuzung zur Bergstraße erläuterte der Nachtwächter, dass Kürnach ein landwirtschaftlich geprägtes Dorf war, aber auch ein kleiner Kosmos: So ist z.B. für das Jahr 1831 das Vorhandensein von 1 Chirurgen, 1 Bäcker,2 Wirten, 3 Müllern,9 Schuhmachern, 4 Schneidern, 6 Leinenwebern, 2 Zimmerermeistern, 2 Wagnern, 1 Schmied, 1 Glaser, 1 Maurer, 1 Büttner und 2 Schreinern beschrieben – und das alles bei damals ca. 800 Einwohnern!
Mit breitem Grinsen erzählte Reinhard Heinrich an der dritten Station am heutigen Aljezurplatz vom „Faselvieh“.Gemeindliche Aufgabe war es, für die Tierzucht zu sorgen, um Inzucht zu vermeiden. So sorgte die Gemeinde jeweils für einen neuen Zuchtstier, einen Eber sowie einen Ziegenbock (1956 wurden in Kürnach noch 225 Ziegen gezählt, die Kühe des kleinen Mannes.). Im Hahnenhof wurde eine Zeitlang der Gemeindeebergehalten, zu dem die Bauern ihre Muttersauen trieben. Beim Decken wurde das Hoftor geschlossen, damit niemand was sah, was ihn nichts anging. Neugierige Kinder haben sich aber durch ein Astloch im Hoftor Wissen in Sachen Fortpflanzung erworben.
Am Ende der Bergstraße (4. Station) war damals die Bebauung Kürnachs zu Ende und es begannen die Obstwiesen und Felder. Auf der linken Seite steht heute noch ein rotes Backsteinhaus, in dem sich die Mälzerei von Clemens Papst befand. Gerste wurde zu Malz verarbeitet und Malzkaffee gab es in jedem Haushalt. Und alles, was man bei der Obsternte nicht in der Küche verarbeiten oder länger im Keller lagern konnte, wurde zu Schnaps gebrannt. Natürlich musste man dann des Öfteren schauen, ob der Schnaps denn schon gut geworden war, und deshalb ging man häufig zumVerkosten. Deshalb durfte an der Stelle auch eine echte Schnapsverkostung nicht fehlen, und es wurde Apfel-,Birnen- und Mirabellenschnaps ausgeschenkt.
Fünfte Station war dann Am Güßgraben. Thema war der Bau der ersten Wasserversorgung von 1913 durch die Errichtung des Wasserpumpenhauses. Von dort pumpten zwei große Motoren das Trinkwasser des Krautsbrunnen bis 1964 in den Hochbehälter auf dem Höllberg. Von dort floss es zurück in das Leitungsnetzmit 5,2 km Hauptleitungen und 2,8 km Anschlussleitungen, die in Fronarbeit per Hand gegraben wurden. Als Kürnach dann an die Fernwasserversorgung angeschlossen wurde, stand das Wasserpumpenhaus über 40 Jahre ungenutzt, bis es 2011 zur Wegkapelle „Wasser und Glaube“ umgebaut wurde. Während die Erwachsenen den Erzählungen lauschten, ließen sich die Kinder Wasser und Apfelsaft schmecken.
Danach ging es zügig schon zur letzten Station des Spaziergangs, zum Platz in der Dorfmitte bei den Zwillingshäusern aus dem 18. Jahrhundert, dem heutigen Gasthaus Stern (ehemalige Gemeine Schenkstatt) und dem Alten Rathaus (im 16. Jhd. Sitz von Gemeindebäckerei und Dorfgericht, im 18. Jhd. Rathausneubau mit Gemeindesaal sowie weiterhin Gemeindebäckerei). Eine weitere Anekdote aus der Geschichte Kürnachs sind das frühere ständige Vorhandensein von Apfelmost in jedem Haushalt (aus den zahlreichen Apfelbäumen im und um den Ort) und die Pfeffernüsse (würzige Plätzchen nach Spezialrezept), die „schö hart sei müss, damit sie in der Hosentasche klappern“. Sie werden vorzugsweise in den Most getunkt und so etwas aufgeweicht. Die „originalgetreue“ Verkostung fand großen Anklang und schnell waren Apfelmost und über 300 selbst gebackene Pfeffernüsse verputzt.
Zum Abschluss bedankte sich Gaby Grützner-Ledermann bei Reinhard Heinrich für seine kenntnisreiche und unterhaltsame Führung und den vielen Zuhörerinnen und Zuhörern für ihr Erscheinen und ihr Interesse.
Text: Ilse Gebhardt-Gögercin
